In diesen schwierigen Coronazeiten ist es manchmal recht aufbauend sich zu erinnern – an eine schöne Epoche unseres Lebens, einen glücklichen Moment oder ein heraus ragendes Naturerlebnis; oder auch – angesichts des stillgelegten Lebens auf den Straßen – das ganz spezielle Verhältnis zu einem Ort.
So ein besonderer Ort ist für mich Berlin, vielleicht gerade deshalb, weil ich nicht lang dort lebte und nie in Gefahr geriet, dort im Alltagstrott zu versinken. Und doch verband sich immer wieder meine persönliche Geschichte mit dem wechselvollen Auf und Nieder dieser Stadt.
In den 1970er Jahren war Berlin das Eldorado der Bundeswehr-Flüchtlinge, der anarchistischen oder auf China fixierten Linken, der Endlos-Philosophie-Studenten, der Künstler, Freaks, Liebeshungrigen und Chaoten. Mieten waren über die Maßen billig, die Wohnungen riesig, und stinkende Öl- wie Kohleöfen förderten durch ihre begrenzte Wärmeleistung das gesellige Miteinander. Für uns frischgebackene Twens war Berlin der deutsche Sehnsuchtsort schlechthin. Meine Freundin, mit der ich in einem zugigen Gartenhaus in der Nähe von München wohnte, hatte dort eine Bekannte, und wir statteten ihr mit unserem ständig Reparatur bedürftigen R4 einen Besuch ab. Allein die Fahrt dorthin war eine Herausforderung. An der Grenze nach Hof empfingen uns chronisch missgelaunte DDR-Grenzer in klapprigen Verschlägen, verglichen kopfschüttelnd unsere Mähnen mit den akkuraten Passfotos und entließen uns auf den Holper-Parcours des sozialistischen Highways. Schlaglöcher waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Manchmal war eine der beiden Spuren unbefahrbar, und die Blechlawine (luftverpestende Trabbis, schwere westdeutsche Limousinen und Freakautos wie unseres) kroch ausschließlich auf einer Seite dahin. Hin und wieder brachen die Schlaglöcher unvermittelt nach unten weg – überraschendes Todesurteil für etliche zarte R4- und 2CV-Achsen.
Nach quälenden sieben, acht, manchmal zehn oder mehr Stunden winkten endlich die Grenzanlagen von Dreilinden, und wir fuhren aufatmend an der Avis vorbei ins gesegnete Land. Abends war Kreuzberg angesagt (und zwar das coole SO 36, nicht das damals schon spießigere SO 61), wo sich der Kohlegeruch, riesige WG-Wohnungen und endlos viele Lokale zu einer Melange aus langen Nächten, heiseren Kehlen und morgendlichen Katern mischten. In einer Eckkneipe am Mariannenplatz, unmittelbar an der Mauer, gab es an überfüllten, rauchgeschwängerten Tischen Hinkel – krustig gebackene Hühnchen – liebevoll bepinselt mit hochprozentigem Calvados. Ein paar Schritte weiter an der Mauer konnte man auf eine Plattform steigen, von der aus man auf den Osten sah, der auf uns eine seltsame Faszination ausübte. Mindestens ein Besuch in Ostberlin war Pflicht: In den wenigen Restaurants wurden wir von mürrischen Obern (die schlechte Laune war sicher Voraussetzung für die Einstellung) an reservierten, aber stets leeren Plätzen an einen weiteren leeren Platz geführt, wo man uns lauwarmen Broiler mit Sättigungsbeilage und ein schales Helles auf den Tisch knallte. Manchmal führte uns ein Spaziergang an rußverschmierten Fassaden mit „Plaste und Elaste“-Werbung vorbei zu den Grenzanlagen, hinter denen wir ein fernes Rauschen hörten – Verheißung einer aufregenden, nahen und doch fernen Welt, zu der wir selbst freien Zugang hatten.
Einmal fuhr meine Freundin voraus, und wir wollten uns später am Alexanderplatz treffen. Ich passierte die Kontrollstelle an der Friedrichstraße. Ein misstrauischer Grenzer fragte mich lauernd nach dem Besitz westdeutscher Druckerzeugnisse. Ich zeigte ihm lächelnd und unbedarft einen Spiegel, den ich kurz zuvor erworben hatte. In Bruchteilen einer Sekunde stand ein Ring Vopos um mich herum, einer hielt sein Maschinengewehr im Anschlag und befahl, mich an die Wand zu stellen und bis auf die Haut zu entkleiden. Trotz hektischer Suche fand man keine weiteren imperialistischen Pamphlete oder Drogen. Sicherheitshalber steckte man mich stundenlang in eine Arrestzelle, brummte mir schließlich ein Bußgeld auf, konfiszierte das abartige Druckwerk und schickte mich unverrichteter Dinge wieder zurück.
Auch unsere Rückfahrt ein paar Tage später nach Westdeutschland verlief nicht ganz ohne Pannen. Erleichtert, meinen Geldbeutel nicht allzu sehr strapaziert zu haben, passierte ich die Grenze in Dreilinden. Wir unterhielten uns angeregt über unsere fröhlichen Berliner Tage, und ich achtete minutenlang nicht auf die Straße. Plötzlich sah ich das Hinweisschild „Berlin – Hauptstadt der DDR 30 Kilometer“. Rings um uns tuckerte eine fröhliche Herde von Wartburgs und Trabbis. Kein einziges Westauto war mehr zu sehen. Wir befanden uns mitten auf dem Berliner Ring in der tiefsten Deutschen Demokratischen Republik. Offensichtlich hatte ich die richtige Abfahrt verpasst.
Ich stellte fest, dass die Fahrbahn in der Gegenrichtung nur durch einen schmalen Grünstreifen von der unseren getrennt war. Wenn der Verkehrsfluss es erlaubte, wäre es nicht schwer, einfach zu wenden, um wieder auf das rettende Westberlin und die BRD zuzusteuern. Gesagt, getan. Ich wartete einen ruhigen Moment ab, bremste ab und lenkte den R4 über den Grünstreifen auf die andere Spur. Na also! Wir atmeten erleichtert auf.
Zwanzig Meter darauf erschien wie aus dem Nichts eine grün-graue Uniform. Ein schriller Pfiff. Ein kühler, wenn ich mich nicht täuschte, schadenfroher Blick und ein gezückter Block mit aufgelisteten Höchststrafen. Siebzig Mark Bußgeld – für mich damals ein kleines Vermögen. Meine Freundin blickte mich mitleidig an. Immerhin hatte mich unsere erfrischende Kür auf dem harten Kachelboden des Badezimmers (wir bewohnten unser Gastzimmer zusammen mit zwei Freunden aus München) für die nachfolgenden Misshelligkeiten im Voraus entschädigt.
Nach meinem Design-Studium in München hatte ich noch keine Lust, als Grafiker zu arbeiten und hielt Ausschau nach einem Praktikum. Ein Freund meines Vaters war bildender Künstler. Er hatte einen Wettbewerb in Berlin gewonnen zur kreativen Bebauung einer Parkanlage in einer Nervenklinik in Frohnau. Ich hatte gehört, dass er einen Assistenten suchte, fragte bei ihm an und er sagte zu. Ein paar Wochen später – es war ein goldener, immer noch warmer Oktober – machte ich mich auf meinem Moped, mit Rucksack und Gitarre auf den Weg. Langsam, aber guter Dinge fuhr ich durch die gelb und rot blitzenden Wälder der Fränkischen Schweiz. Ich hatte eigentlich vor, auch durch die DDR zu fahren, denn es gab dort eine Sonderregelung, die es Moped- und Traktorfahrern erlaubte, die volkseigene Autobahn zu benutzen. Doch ein Blick zum Himmel, der sich zusehends verdüsterte, belehrte mich eines Besseren, und ich nahm von Hof aus lieber den Zug.
Bei einem Italien-Aufenthalt hatte der Freund meines Vaters in Apulien kleine Rundhäuser entdeckt – Trullis genannt – die dort von den Einheimischen errichtet wurden. Genau diese Häuschen baute er jetzt in der Klinik in Frohnau zusammen mit einer Horde schwererziehbarer, sozial auffälliger, renitenter Jugendlicher, die begeistert Ringanker aus Beton gossen, Flaschenscherben zu Mosaiken formten und Skulpturen mit merkwürdigen Gesichtern schufen. Für die Kids, die einen harten Berliner Umgangston pflegten, war ich – der ich in München nie größere soziale Spannungen ertragen musste – ein Opfer wie auf dem Präsentierteller. Mit größter Befriedigung überboten sie sich in einem Wettkampf, wie sie mich am besten piesacken, beleidigen, quälen und vor den Kopf stoßen könnten. Ich biss mich mit letzter Kraft durch und gewann langsam, an langen Arbeitstagen im eiskalten Novemberregen, ihre Zuneigung und ihr Vertrauen. Bis ich erstaunt feststellte, dass hinter ihrer rauen Schale ein butterweicher, überaus verletzbarer Kern steckte.
Diese Begegnung mit den Kids und den Trullis diente mir viele Jahre später als Anregung für meinen abenteuerlichen und dystopischen Berlin-Roman „Die Lüchsin“, in dem ich ihnen ein kleines, ganz persönliches Denkmal gesetzt habe …
Trotz des Schmuddelwetters war die Zeit für mich wie ein Rausch. Eine Zeitlang wohnte ich bei einer Bekannten im Wedding. Sie lebte hauptsächlich aus Plastiktüten und hatte einen Freund namens Markus – ein begnadeter, aber cholerischer Musiker, der wie ein Schlot filterlose Zigaretten rauchte. Wenn ich es gut erwischte, war er einigermaßen freundlich und brachte mir ein paar Läufe auf der Gitarre bei. Doch wenn es ihn überkam, brüllte er wie ein Stier, fegte den Inhalt des Geschirrschranks leer und ließ ihn mit ohrenbetäubendem Knallen auf den Fußboden krachen. Schließlich nahm ich doch lieber ein Angebot des Künstlers an und zog in ein stilles Zimmer in der seltsamen Kontrastwelt eines katholischen Wohnheims.
Wann immer das Wetter es zu lies, brauste ich mit meiner aufgemöbelten Vicky (Victoria, ein uraltes Moped aus den 1950er Jahren) vom Wedding nach Kreuzberg und zurück. Falls es zu unwirtlich wurde, nahm ich die S-Bahn und staunte, wie nah und unendlich weit entfernt die Welten hier nebeneinander lagen. Wenn die ratternde S-Bahn (die von der DDR betrieben wurde) über eine weit geschwungene Brücke quietschte, blickte ich unter mir, fast greifbar nah, auf die sperrigen Grenzanlagen und Ostberlin. Am aufregendsten waren die Fahrten mit der U-Bahn. Der Streckenverlauf unter der Erde wurde bei einigen Linien von Ostberliner Gebiet durchschnitten. Dann fuhr der Zug langsamer, bis er fast zum Stillstand kam. Im Schritttempo schlichen wir durch geisterhafte Bahnhöfe einer verloschenen Zeit. Vopos standen wie erstarrte Denkmäler ihrer selbst auf dem Bahnsteig und setzten Staub an. Hinter ihnen priesen Plakate aus den 1940er oder 50er Jahren Staubsauger oder Duschhauben für die Hausfrau an. Flüchtig sah man eine Treppe nach oben, die abrupt an einer Wand endete. Plötzlich, als hätte es sich der Fahrer anders überlegt, drückte er aufs Gas, wir brausten in einen engen Tunnel und landeten auf einem West-Bahnhof mit wieder erwachtem, donnerndem Leben.
Eines Abends besuchte ich ein Konzert mit dem ausgebürgerten Wolf Biermann, der damals noch fest an seine sozialistische Sache glaubte und nicht zum CDU-Freund mutiert war. Nicht weit von mir entfernt saß ein Mädchen mit sanft gewellten, rotblonden Haaren und, soweit ich das beurteilen konnte, einer umwerfenden Figur. Meine Aufmerksamkeit verlagerte sich zusehends von dem Konzert weg zu ihr hin. Wir blinzelten uns zu, sahen wieder weg und starrten uns erneut an. Wie durch eine Fügung des Schicksals steuerte sie nach dem Konzert in den gleichen Omnibus wie ich. Ich saß – besser gesagt, setzte mich – genau hinter ihren Rücken. Endlich erbarmte sie sich, drehte sich nach mir um, und ich sprach sie an. Sie war zarte neunzehn Jahre alt und arbeitete als Praktikantin und Prospekt-Malerin (das sind die gewaltigen bemalten Kulissen) bei der Oper.
Von da an sah ich sie öfter, und sie erzählte mir von der schrägen und faszinierenden Welt des Theaters mit Leidenschaft, Intrigen und Affären, und ihrer ungewöhnlichen Mietergemeinschaft in einem heruntergekommenen Wohnhaus in Neuköln. Ab und zu konnte ich die Dramen jenseits ihrer Zimmerwand mit verfolgen – Liebesschwüre, Beleidigungen bis zu hysterischen Schreien und schluchzender Versöhnung – das ganze Repertoire der Seifenoper spielte sich stereophon zu beiden Seiten ihrer Wohnung ab. Regine – so hieß meine Freundin – war ein recht hoch gewachsenes Mädchen, etwa genauso groß wie ich. Dennoch – wenn sie mit entwaffnendem Augenklimpern über müde Füße oder einen wehen Rücken klagte, trug ich sie manchmal über die Schwelle ihrer Wohnung, wo wir in trauter Eintracht und seltsamer Scheu auf ihrem Bett verharrten. Beide warteten wir atemlos auf den ersten Schritt, denn wir genießerisch und vor Spannung zitternd immer weiter nach hinten schoben.
Dann aber kam alles völlig anders. Der Künstler, mit dem ich arbeitete, war jeweils nur für vierzehn Tage in Berlin. In der Zwischenzeit fuhr er in seine Wohnung in Westdeutschland, um an anderen Projekten zu arbeiten. Dies führte dazu, dass ich periodisch alle zwei Wochen ohne Arbeit und ohne Geld war. Irgendwann war mein Gespartes aufgebraucht, und ich fuhr nach München, um beim Studentenschnelldienst ein paar Mark zu verdienen. Und dort lernte ich … aber das ist eine andere Geschichte.
Etliche Jahre später – ich war inzwischen Vater einer kleinen Tochter – besuchte ich Berlin wieder öfter. Ich hatte einen Gitarristen kennengelernt, mit dem ich hauptsächlich in Bayern auftrat, eigene Chansons spielte und meine am Weltschmerz leidenden Texte vortrug. Irgendwann tat ich einen Club in Berlin auf, in dem wir auftreten konnten. Ich hatte damals einen dinosaurierartigen, uralten Opel, der immer wieder gern ein wenig Öl spuckte. Doch über die Autobahn nach Berlin schaffte er es spielend. Wir hatten einen gelungenen Auftritt und ein angeregtes Wochenende in der Großstadt. Schweren Herzens machten wir uns am Sonntagabend mit Gitarren, Verstärkerbox, Schlafsäcken und dem roten Opel auf den Heimweg.
Souverän passierte der Wagen Dreilinden und rauschte tief brummend durch die DDR. Irgendwo im Hinterland, fünfhundert Meter vor einer Raststätte, begann der Motor zu röcheln. Wir versuchten, uns möglichst leicht zu machen, schoben den Wagen mental mit an und schafften es mit letzter Kraft bis zur Zapfsäule. Benzin war ausreichend vorhanden, doch aus dem Motorraum drang ein verdächtiges Qualmen. Was tun? Wir fragten das Personal nach einem Mechaniker – es gab keinen. Ratlos blickten wir uns an und beschlossen, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Wir fragten die Besitzer von West-Limousinen, ob sie uns freundlicher Weise abschleppen könnten und stießen auf eine Einheitsfront der Ablehnung. Auch die Bediensteten der Tankstelle musterten uns nicht eben freundlich. Auf die Tanksäule rollte ein schwerer Mercedes zu – Vater, Frau und jugendliche Tochter. Wir sagten unser Sprüchlein auf und ernteten entschiedenes Kopfschütteln. Resigniert wandten wir uns ab.
Plötzlich erklang ein lautes Hupen, und wir sahen, wie der Familienvater aus dem geöffneten Fenster winkte. Er würde uns mitnehmen! Gesagt, getan – wir brachten das Seil an fuhren im Schritttempo auf die Autobahn. Langsam wurde unser Vordermann schneller. Die Fahrt am anderen Ende des Seils erforderte äußerste Konzentration. Ab und zu bremste der Mercedes wegen eines Schlaglochs, und ich musste blitzschnell reagieren, um nicht auf seinem Heck zu landen. Jeder Lenkvorgang erforderte Kraft, denn die Servolenkung war ohne Motor außer Betrieb. Langsam aber sicher wurde es schneidend kalt – denn wir hatten – wieder einmal November.
Wir aber amüsierten uns, trotz der prekären Lage, blendend. Wir plauderten über die hübsche Tochter, die immer wieder einen erstaunten Blick nach hinten warf und stellten uns vor, sie säße mit uns im Wagen. Wir bauten unsere Geschichte aus, schwelgten in erdachten, aufregenden und amüsanten Abenteuern mit dem Mädchen und bogen uns vor Lachen. Die Mannschaft im Vorderwagen blickte sich immer wieder nach uns um und winkte staunend. Wir winkten fröhlich zurück.
Die Stunden zogen vorbei. Es wurde immer kälter, und auch die Landschaft um uns veränderte sich zusehends. Rechterhand schälten sich aus dem Nebel die Umrisse einer hässlichen Plattenbausiedlung, die kaum enden wollte. Waren wir der auf dem Hinweg auch begegnet? Wir konnten uns nicht erinnern. Außerdem: wir müssten, trotz der langsamen Geschwindigkeit, doch längst da sein – so weit entfernt lag Hof nun auch nicht. Wir blickten uns ratlos an. Den Familienvater konnten wir nicht fragen – Handys gab es damals noch keine. Also Zähne zusammenbeißen und durch!
Endlich – es war sicher schon zwei morgens, schälte sich aus dem Dunst ein Grenzpfosten der DDR. Der Vopo trat stirnrunzelnd erst auf den Vorderwagen, dann auf uns zu und musterte die Papiere. Er wies auf unsere Einreisestempel und schüttelte den Kopf: „Sie sind hier falsch. Sie müssen zum Übergang in Hirschberg!“
Wir waren nicht an der Grenze zu Hof gelandet, sondern an der zu Kassel. Wir zuckten hilflos mit den Schultern. „Es tut uns leid, aber der Wagen ist kaputt“.
Der Grenzer warf uns einen bösen Blick zu und beriet sich mit seinem Kollegen. Bürokratische Vorschriften und schnöde Realität prallten hier gnadenlos aufeinander. Das rasch aufgeschlagene Handbuch bot keine Lösung. Schließlich rang er sich zu einem Akt erstaunlicher Spontaneität durch, stempelte säuerlich unsere Papiere ab und ließ uns fahren.
An der Raststätte vor Kassel tranken wir mit der netten Familie einen Kaffee, zwinkerten der Tochter zu und verabschiedeten uns herzlich. Den nachfolgenden eiskalten Rest der Nacht verbrachten wir einigermaßen schadlos in unseren Schlafsäcken im Auto. Eine Woche später schleppten wir es mit dem Wagen meiner Mutter ab. Wie schon befürchtet, war der Motor nicht mehr zu retten.
Meine nächste Berlin-Zeit erfolgte ein paar Monate nach der Wende. Mein Gitarristen-Freund hatte ein paar Habseligkeiten gepackt und war mit seiner Suzuki in die gelobte Stadt gezogen, wo sich seit dem Fall der Mauer Abenteurer, Schieber, Krisengewinnler und Lebenskünstler die Hand reichten. Für die Zeitspanne von knapp zwei Jahren stand die Welt in Berlin und der nun freien DDR Kopf. Alte Verordnungen waren außer Kraft gesetzt oder widersprachen den neuen. Jedermann konnte ohne Genehmigung eine Existenz gründen, eine Kneipe eröffnen, steuerfrei ein Vermögen verdienen oder Wohnungen besetzen. In Ostberlin standen ganze Häuserzeilen leer oder waren für einen Spottpreis zu mieten, da ihre Bewohner Hals über Kopf in den Westen gezogen waren.
Mein Freund wohnte in einer Fabriketage am Prenzlauer Berg – damals ein heruntergekommenes, anarchisches Viertel, Lichtjahre entfernt von der Ökoidylle heutiger Tage. Die Fabrikhalle war etwa so groß wie ein Fußballfeld. Mittendrin stand ein einsamer blubbernder Ölofen, der (es war wieder einmal November) die unmittelbare Nähe von etwa drei Metern mit stinkend heißer Luft erfüllte, während der Rest der Halle in schneidender Kälte verharrte. Von oben hörte man die monotonen, irgendwie beruhigenden Mantras von Hare-Krishna-Mönchen, die angesichts der günstigen Miete ebenfalls eine Etage gemietet hatten. Unser Überlebensmodus bestand aus Pils, Kartoffelchips oder wahlweise Zwieback (die Küchenzeile war ein Zweiplatten-Elektrokocher, auf dem wir hin und einen Tee brühten) und Ausgehen. Allerdings musste damals aufpassen, wo man hinging. Mein Freund war ein paar Tage zuvor, nachdem er dreihundert Mark abgehoben hatte, überfallen worden. Die Räuber – zwei Drogensüchtige – passten ihn vor der Haustür ab und bedrohten ihn mit einem uralten Revolver. Zähneknirschend übergab er das Geld, und die Kerle eilten davon.
„He, Moment mal“, sagte er und hielt sie zurück. Die beiden Diebe blieben stehen und blickten ihn fragend an. „So geht das auch nicht. Jetzt hab ich ja nichts mehr!“
Die Räuber runzelten die Brauen und dachten nach. „Na ja …“, sagte der Mann, der das Geld eingesteckt hatte. „Stimmt auch wieder!“ Er zuckte mit den Schultern, zog einen Hunderter aus der Tasche und reichte ihn meinem Freund. „Passt das?“
„Ist schon ok.“ Die Diebe grinsten, zwinkerten ihm zu und verschwanden im Dunkel der Nacht.
Trotz der offensichtlichen Gefährlichkeit der Straßen zogen wir es vor, der Kälte für ein paar Stunden den Rücken zu kehren und fuhren in eine Kneipe. Sie hieß „Der Eimer“ und war nur zugänglich über eine geöffnete Klappe im Boden einer aufgelassenen Metzgerei. Schmale und steile Eisenstiegen führten unmittelbar hinunter in den Hades. Uns schlugen Rauchschwaden und ohrenbetäubender Lärm entgegen. Irgendwie quetschten wir uns nach unten und strandeten in einer wurlenden Menge feierwütiger, rauchender und tanzender Menschen. Die Punk-Band auf der improvisierten Bühne gab offensichtlich ihr Letztes. Der Sänger kreischte in ein gewaltiges Mikro, doch seine Stimme ging in dem allgemeinen Lärmpegel unter. Das Ambiente wurde geprägt durch speckige, geflieste Wände, an denen malerisch Fleischerhaken hingen, und einen halb verrosteten, gigantischen Fleischwolf. Wir kämpften uns bis zum Tresen durch und tranken Pils. Ein Mann mit glasigem Blick schielte begehrlich auf unser Bier und bot zum Tausch ein paar bröselige Tabletten. Zwei Mädels tanzten hüftenschwingend in unserer Nähe, und wir überlegten uns schreiend ein neues Bandprojekt namens „Überdruck“ mit Presslufthammer, Bohrmaschine und jaulender Flex. Eine kurze Zeit lang war Berlin das Paradies.