Nachdem ich schon seit fast zwanzig Jahren in Südamerika – genauer gesagt in Salvador da Bahia – lebe, wollte ich endlich einmal nach Buenos Aires: Eine Stadt, die als südliche Enklave von Italien gilt, und ein Name, der nach raffinierter Sinnlichkeit, hauchzarten Steaks und einer aufregenden Mischung von europäischer und lateinamerikanischer Lebensart klingt.
Im Januar 2019 war es endlich soweit. Als wir in der Stadt ankamen, war es brütend heiß mit Temperaturen von weit über vierzig Grad. Die Metropolitanos haben zwar den Rio de la Plata direkt vor der Nase, doch der ist seit Jahrzehnten so verschmutzt, dass an Baden nicht zu denken ist. Für Millionen von Einwohnern gibt es gerade mal ein paar Schwimmbecken, um wenigstens einige Schwimmzüge im kühlen Wasser zu genießen.
Meine Frau und ich wohnten in einem pittoresken Viertel zwischen Vila Crespo und dem angesagten Palermo. Schon auf dem – zum Glück schattenreichen – Weg von der Bushaltestelle zu unserer Unterkunft bemerkte ich wunderschön gestaltete Lokale und Läden. Über vielen von ihnen schwebt ein zarter Hauch von Nostalgie: Altmodische Holzstühle und runde Tische, geschwungene Blechschilder im Stil der 1950er Jahre, kleine Vorgärten mit blühenden Kletterpflanzen und unendlich viele Lampen in allen Größen, die abends ein sanftes, milchiges Licht ausstrahlen.
Unser Haus war ein altmodischer Backsteinbau in einer ruhigen Allee. Im weitläufigen Wohnzimmer und im Gang standen kleine Skulpturen, an den Wänden hingen farbige Bilder und Gobelins, denn die Gastgeber waren sehr aktive Künstler. Schräg gegenüber dem Haus saßen an einem langen Tisch auf dem Bürgersteig abenteuerlich aussehende Gestalten beim späten Mittagessen: Liebevoll geschminkte Damen in hautengen Kleidern oder in Latex, die sich bei Wein und Steak offensichtlich blendend amüsierten. Erst nach genauerem Hinsehen stellten wir anhand ihrer Größe, der kräftigen Schultern und starken Arme fest, dass sie sicher nicht ihr ganzes Leben lang Frauen gewesen waren. Das Etablissement, vor dem sie fröhlich feierten und tranken, war offensichtlich ihre Arbeitsstätte, die sich auf horizontale Dienstleistungen spezialisiert hatte.
Abends gingen wir in einem wunderbar gemütlichen Restaurant essen. Die Gastgeberin hatte es uns als günstiges Familienrestaurant empfohlen, doch die Preise waren für uns als „brasilianische Touristen“ gesalzen. Für alle, die nicht mit Dollar oder Euro anreisen – und natürlich für die Einwohner selbst – sind die Kosten hier sehr hoch. Doch die Menschen lassen sich dadurch nicht das Ausgehen verderben. In den milden Januarnächten füllen sich die Stühle und Tische erst ab neun Uhr; dann sitzen die Menschen bis spät in die Nacht beim Weintrinken und Ratschen.
Später fanden wir in unserer Nachbarschaft eines der in ganz Buenos Aires verteilten Bodegons – familiäre Restaurants, die oft im Selbstbedienungsmodus funktionieren und deshalb günstiger kalkulieren können als Lokale mit Kellnern. Der liebevoll dekorierte Saal war stets berstend gefüllt, trotzdem wirkte die Stimmung – im Gegensatz zu Salvador, wo oft geschrien, gelacht und getanzt wird –zurückhaltend und diskret.
Wenn man durch die belebten Straßen schlendert, hat man auf den ersten Blick das Gefühl, irgendwo in Süditalien oder Spanien zu sein. Erst nach und nach offenbart sich in den Gesichtern und Gesten die Seele Lateinamerikas: Die diskrete Sinnlichkeit der Frauen, die schwirrende Musik, der stets gegenwärtige Tango – und in den Nebenstraßen verfallende Häuserfronten, Müll und Bettler.
Eines Abends – wir waren gerade auf dem Nachhauseweg von dem Bodegon – fiel im ganzen Viertel der Strom aus. Von einem Moment zum anderen war es gespenstisch dunkel, nur die Inseln der Autoscheinwerfer durchschnitten die Schwärze der Nacht. Nicht weit von uns entfernt hörten wir einen Hilferuf – anscheinend hatten ein paar Diebe rasch ihre Rucksäcke mitgenommen, um sie in der Gunst der Stunde ordentlich zu füllen. Wir tasteten uns halb blind von Zaun zu Zaun und waren überglücklich, als wir endlich vor unserer gerade noch erkennbaren Haustür standen.
Natürlich wollten wir auch zu einem Tangoabend und stellten erfreut fest, dass einige traditionelle Clubs in unmittelbarer Nähe lagen. Wir zahlten den bescheidenen Eintritt und gelangten in einen großen Saal mit Spiegeln, alten Plakaten, einem Sitzbereich mit runden Tischchen und einer Tanzfläche, die gut gefüllt war mit tanzenden Paaren – fast ausschließlich Menschen im Pensionsalter. Ich war im ersten Moment etwas enttäuscht, ich hatte ein wenig Verführungskunst und Exotik erwartet. Doch das Schauspiel, das sich vor unseren Augen darbot, wirkte sinnlich und anrührend zugleich. Es war schön, zu sehen, wie Menschen, die anderswo längst zum „alten Eisen“ gerechnet werden, hier ihre Sinnlichkeit und Tanzlust lebten. Nach vielleicht zehn Minuten hörte die Musik auf, die Saalbeleuchtung flammte auf, und die Tanzwilligen suchten sich einen anderen Partner. Über dem Saal lag eine Stimmung, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte: Die anspruchsvollen, scharf synkopierten Klänge des Tango; die leise Melancholie der Paare, die altmodische Bar mit den Kellnern, die riesigen Wandspiegel, die das Geschehen hundertfach reflektierten und seltsam verzerrten.
Tief beeindruckt gingen wir hinaus in die sternklare Nacht. Buenos Aires, dachte ich, ist eine Stadt, deren wahrer Geschmack sich erst im Nachspüren entfaltet; eine merkwürdige Mischung aus verhaltener Lebensfreude, sinnlicher Melancholie und gebremster Leidenschaft, die bestimmt nicht nur mich süchtig macht …