Jedes Jahr vor dem Karneval feiert man in Salvador da Bahia die Lavagens – die Waschung der Kirchenstufen – eine Anzahl von rauschenden, ausufernden Straßenfesten. Sie gehen auf verschiedene Ursprünge zurück, doch heute bilden alle eine bunte, lebendige und faszinierende Mischung aus katholischer Feier, Candomblé und riesiger Party.
Die Lavagens gelten als Symbol des Aufbruchs nach dem „Winter“ (in dem es vielleicht ein paar Grad kühler ist als im heißen Sommer) und für viele Menschen als der vorgezogene Höhepunkt des Jahres. Die jährlich wiederkehrenden Spektakel sind mittlerweile ein fester Bestandteil auch der offiziellen Kultur und nicht zuletzt eine stattliche Einnahmequelle für den Tourismus.
Die Gläubigen des Candomblé verstehen viele Naturgewalten als Gottheiten – wie die des Windes, Regens und Feuers, des Meeres und der Süßwasser, des Waldes und der heilenden Kräuter. Gleichzeitig sind diese Wesen individuelle, ansprechbare Personen mit Vorlieben und Launen, die man günstig stimmen oder verprellen kann: Orixás, die sich in der fleischlichen Hülle von Medien offenbaren, tanzen, rauchen, trinken und – wenn sie gnädig gestimmt sind – den Gläubigen Dinge erzählen, die sich normalerweise hinter dem Schleier von Raum, Zeit und Schweigsamkeit verbergen.
Die größte Lavagem findet am zweiten Februar statt und ist wohl die farbenprächtigste für die Sinne: Das große Fest für Iemanjá, die vielleicht wichtigste Orixá für Salvador, eine Stadt, die immer noch mit der Tradition der Fischer verbunden ist, wird in seiner heutigen Form seit 1974 im Stadtviertel Rio Vermelho – dem Roten Fluss – gefeiert.
Um das Spektakel richtig zu genießen, muss man sehr früh aufstehen. Schon kurz nach Sonnenaufgang zieht durch die Straßen Rio Vermelhos eine Prozession von Gläubigen des Candomblé, in farbenprächtigen traditionellen Roben, trommelnd, tanzend und singend, mit drapierten Bildern ihrer Göttin Iemanjá. Zur selben Zeit formiert sich eine Schlange von Hunderten Menschen, die darauf warten, ihrer Rainha do Mar – der Königin des Meeres in der Casa de Iemanjá ihre Aufwartung zu machen.
Am Straßenrand sitzen etliche ambulante Blumenhändler und hoffen, ihre weißen, gelben und blauen Rosen an die Gläubigen zu verkaufen, solange sie noch frisch sind. Im Hafenkessel dümpeln pittoresk Fischerboote und warten auf die Opfergaben – Blumengebinde, Puppen, handgeschriebene Zettel und Früchte – um sie später mit aufs Meer zu nehmen und Iemanjá zu übergeben. Der Strand davor ist voller Baracken, in denen gepredigt, getanzt, getrommelt oder geweissagt wird. Mães und Pais do Santo in kunstvollen Gewändern bieten spontane Limpezas (Reinigungen) an – allerdings nur gegen eine entsprechende „Spende“.
Im silbernen Licht liegt türkisfarben das Meer mit farbigen, geschmückten Booten, am Strand hocken Menschen faul im Sand oder tanzen zu den Trommeln. Erste Adepten fallen in Trance und stürzten wie betrunken in die Fluten, Hunderte Schaulustige flanieren, trinken, lachen und flirten. Eine inkorporierte Iemanjá verzerrt ihre Züge, fällt hintenüber und wird im letzten Moment von ihren Ogãs (Mitglieder des jeweiligen „Klosters“, die nicht in Trance fallen) gehalten.
Noch ist die Stimmung geprägt vom Candomblé, trotz des Kommerzes von Verkaufsständen und Devotionalien spürt man die vibrierende Energie. Immer wieder kippen Menschen einfach um, manche stoßen spitze Schreie aus und tanzen ekstatisch zu der anschwellenden Musik der Trommeln.
Langsam wird es heiß, die Sonne steigt fast bis zum Zenit. Die Schlange vor der Casa de Iemanjá nimmt kein Ende, inzwischen strömen die Massen, die nur trinken, tanzen und sich amüsieren wollen.
Für mich, der auch wie in Trance das Treiben fotografiert und beobachtet hat, wird es Zeit, aufzubrechen und nach Hause zu fahren.
Nachmittags gibt es in meinem Viertel Itapuã, das noch sehr vom Fischfang geprägt ist, eine Fortsetzung. In der Colônia dos Pescadores, dem Sitz der Fischer am Strand, erlebe ich ein eigenes, fast noch schöneres Fest für Iemanjá.
Schon von weitem höre ich von einem Unterstand her einen Samba de Roda – Samba Musik auf traditionellen, akustischen Instrumenten, mit allem, was man irgendwie beklopfen kann: Flaschen, Gläser und Triangeln, ringsum stehen dicht gedrängt Menschen, sie klatschen und singen begeistert mit, stets wagt sich aufs Neue eine Frau oder ein Mann in die Mitte des Kreises und tanzt anmutig und kraftvoll die Roda. Etwa um vier Uhr bewegt sich eine Prozession zum Strand, mit Blumenschalen und -gebinden. Auch hier gibt es tropische Früchte, Puppen und Figuren von Iemanjá. Die wartenden Boote sind wunderschön, ihre geschmückten Aufbauten reflektieren das Licht der späten Sonne. Die Gemeinde am Strand singt inbrünstige Lieder für die Göttin, die jungen Männer treten mit den Opfergaben ins Meer, werden fast von den Wogen verschluckt und kommen doch irgendwie bei den Booten an. Ein Cavalo (ein Medium, das „Pferd für die göttlichen Reiter“) fällt in Trance und wird von seinen Freunden festgehalten. Die Stimmung ist aufgeräumt und friedlich.
Die Sonne senkt sich blutig in die Felsen, ein Feuerwerk wird gezündet, die Boote drehen eine weite Schleife und verschwinden im letzten, strahlenden Kranz des Lichts.
Dieser Text ist ein Auszug aus meinem literarischen Fotobuch über Naturreligionen „Die Götter Bahias“. (Salon Literatur Verlag)