Die Corona Krise, die hier ganz harmlos und unscheinbar im Frühjahr 2020 begann – als es noch kaum Tote zu beklagen gab und es schien, Brasilien würde wie durch ein Wunder haarscharf an der Pandemie vorbeisegeln, wusch tiefe Gräben aus, die wohl schon immer da waren und nun – durch die unsichtbare und, gleichzeitig unwirklich und bedrohlich wirkende Krise, umso sichtbarer wurden.
Fünfzehn Monate später im August 2021, war das Schiff, um beim Bild zu bleiben, kaum noch manövrierfähig und das Segel zerrissen, während der Kapitän über die Katastrophe Witze riss und sagte, er würde auf keinen Fall eine Werft aufsuchen, die den Schaden reparieren könnte. Für ihn war und ist das Virus nur eine „Gripezinha“ – eine nicht ernst zu nehmende kleine Grippe – obwohl er selbst bereits mit dem Virus infiziert war. Der aktuelle Stand der Toten (im Ferbruar 2022 knapp sechshundertfünfzigtausend) schnellte ähnlich unkontrollierbar nach oben wie die Inflation, die in den zwei Jahren der Pandemie bei wichtigen Konsumgütern um knapp 200% in die Höhe geschossen ist – selbst für Brasilien eine unvorstellbare Zahl. Einfaches Sojaöl ist heute mehr als doppelt so teuer als vor einem Jahr – und das im Land eines der größten Sojaproduzenten weltweit. Auch die Preise für Baumaterialien sind in zwölf Monaten teils um hundert Prozent in die Höhe geschossen. Käse, Wurst, Fleisch und Milch sind mittlerweile fast Luxuswaren – Müsli und Joghurt sowieso.
Die Intensivstationen der Krankenhäuser in Salvador sind periodisch wiederkehrend überfüllt. Oft gab es selbst in den öffentlichen Hospitälern nur noch Plätze für Patienten, die über entsprechendes Kleingeld oder Vitamin B verfügen. In Manaus wurden die Schwerkranken mit dem Helikopter in acht „umliegende“ Städte (das heißt, einige tausend Kilometer entfernt) geflogen. Tagelang gab es am Amazonas keinen verfügbaren Sauerstoff mehr. Und Manaus war nicht die einzige Stadt mit Beschaffungsproblemen. In ganz Brasilien gab es monatelang einen eklatanten Engpass von Spritzen und Sauerstoff – oft aus mangelndem Willen der Gouverneure (je nach politischer Couleur), auch nur irgendetwas Vernünftiges gegen die Krise zu unternehmen.
All diese Schrecken hielten die meisten Menschen jedoch nicht davon ab, ihre lieb gewordenen Gewohnheiten zu ändern. Masken sind in Südbrasilien, wo viele deutsche Einwandererfamilien wohnen, vielleicht noch angesagt – je weiter man nach Norden kommt, desto mehr schwindet die Bereitschaft: Mal hängt das oft hübsch bestickte und bedruckte Stoffteil, das eigentlich schützen soll, an der Ohrmuschel, meist baumelt es irgendwo unter dem Kinn, dient als Stirnband oder Sonnenschutz, wurde zu Hause vergessen oder liegt zusammen mit dem anderen Müll auf der Straße.
In Salvador sind die Strände, nach einer kurzen Schockphase am Anfang, wieder genauso voll wie vor Corona. Hin und wieder gehe ich staunend an der Promenade spazieren, sehe durchweg maskenlose Menschen und werde mit meiner Gesichtsbedeckung angesehen wie ein Wesen vom anderen Stern. Brasilien wurde ja schon immer heimgesucht von geradezu biblisch anmutenden Plagen: Dengue-Fieber, Malaria, Zika- und Chikungunya-Virus, Gelbfieber oder Sarampo – da spielt, nach Ansicht vieler, eine Seuche mehr oder weniger kaum eine Rolle.
Die Fähigkeit der Brasilianer, vor allem der Nordestinos – der Menschen im teils afrikanisch anmutenden Nordosten – Schicksalsschläge, politische Umwälzungen und Widrigkeiten des Alltags einfach hinzunehmen und zu integrieren, ist – je nachdem, welchen Standpunkt man einnimmt – beneidenswert oder zum Haare ausraufen. Während in Argentinien die Mütter und Frauen der in der Militärdiktatur Verschwundenen vehement auf der Plaza de Mayo gegen das Vergessen demonstrierten, ist die Zeit der Diktatur in Brasilien nahezu aus dem Bewusstsein verschwunden. Anstatt sich um Politik und den Schnee von gestern zu kümmern, tanzen die Menschen lieber Samba und leben unbeschwert losgelöst im Hier und Jetzt.
Allerdings erinnere ich mich an eine Zeit vor der Weltmeisterschaft 2014, als die ganze Welt auf Brasilien blickte – ein damals kraftstrotzendes Land voller Hoffnung: „Der schlafende Riese“, wie es von vielen Einwohnern genannt wurde. Dilma Rousseff, die Nachfolgerin von Präsident Luiz Inázio Lula da Silva, der die WM, genauso wie die Olympiade, auf den Weg gebracht hatte, setzte die Sozial-Reformen ihres Vorgängers fort. Millionen Menschen wurde mit der „Bolsa Família“, einem staatlichen Kindergeld, der Weg aus bitterster Armut geebnet, Schwule und Lesben entwickelten ein neues Selbstbewusstsein, und der Schutz des Regenwaldes wurde endlich auf die Tagesordnung geschrieben. Es gab damals etliche Demonstrationen – eigentlich eher Straßenpartys – die diesem neuen Selbstbewusstsein und der explodierenden Hoffnung Ausdruck verliehen. Ich war selbst auf einigen dabei und fühlte mich mitgerissen von der Idee des Aufbruchs und dem berauschenden Gefühl: in diesem Land ist alles möglich! Etliche Teilnehmer hatten phantasievolle, farbenprächtige Kostüme, viele trugen Schilder mit kreativen und witzigen Sprüchen vor sich her, Sambatrommeln dröhnten durch die schmalen Gassen, Heteros, Schwule, Transsexuelle und Lesben tanzten wild chaotisch durcheinander, und alle Welt war trunken von der Gewissheit: Brasilien ist der Gastgeber der Welt, ein Vorbild der Entwicklung vom Dritte-Welt- zum Schwellenland, nur einen Fußbreit entfernt vom Schulterschluss mit Europa und den USA. Die WM war dann – trotz des traumatischen 7:1-Desasters – ein fröhliches, rauschendes Spektakel, dessen Gastgeber sich so selbstbewusst fühlten, dass sie sogar in der Lage waren, die vernichtende Niederlage gegen Deutschland wegzulächeln.
All dies wirkt heute, gerade einmal acht Jahre danach, wie eine wehmütige Reminiszenz aus einer Lichtjahre entfernten Welt. Nur zwei Jahre nach der WM wurde Dilma Rousseff mit einem mehr als fragwürdigen Impeachment ihres Amtes enthoben, der Nachfolger, ihr ehemaliger Vizepräsident Temer, war nur der Vorbote einer Apokalypse, die das Land mittlerweile überfällt. Das damals noch hohe Wirtschaftswachstum ist in sich zusammengebrochen, die Arbeitslosigkeit – zum Beispiel in Bahia – zählt zu den höchsten weltweit. Die politische Rechte, die während der Lula-Dilma-Periode nur im Winterschlaf vor sich hin dämmerte, ist wie in Trumps USA aufgewacht und hat sich fundamental an allem, was ihr ein Dorn im Auge ist, gerächt. Die evangelikalen Kirchen, schon seit jeher ein gewaltiger Machtfaktor, sind zu selbstherrlicher Größe erwacht und stampfen zusammen mit dem Präsidenten, dessen Wahl sie mit ihrer Unterstützung erst ermöglicht haben, all das, was in den Jahren zuvor erblüht ist, in Grund und Boden. Teils absurde Verschwörungstheorien über Lula, Dilma und alles was nach Links riecht, machen die Runde, kritischen Medien wird der Geldhahn abgedreht, Tausende von Goldsuchern fallen wie die Heuschrecken in indigene Gebiete ein, roden Bäume, vergiften Flussläufe und Bäche und infizieren nebenbei die Ureinwohner, um ihre Gier nach glitzerndem Edelmetall zu stillen. Immer wieder machen Umsturzgerüchte die Runde, der Präsident, selbst nicht viel mehr als eine Marionette der Generäle, hat entscheidende Stellen im Apparat mit Militärs besetzt und scheint nur auf die Stunde seiner endgültigen, absoluten Machtergreifung zu warten.
Doch die Dunkelheit ist vor dem Tagesanbruch bekanntlich am größten, und es gibt tatsächlich wieder Hoffnung. Ex-Präsident Lula (selber mit Sicherheit kein Engel), der zwei Jahre wegen eines fragwürdigen Korruptionsvorwurfs im Gefängnis saß, ist wieder auf freiem Fuß – allerdings deutlich geschwächt durch seine überstandene Krebserkrankung und zwei Jahre im Gefängnis. Überall im Land kommt es zu Demonstrationen gegen Bolsonaro, dem nun sein Missmanagement in der Krise vor die eigenen Füße fällt. Bemerkenswert ist vor allem, dass etliche Mächtige, Unternehmer und Militärs sich langsam von ihrem Günstling abzuwenden scheinen und neu orientieren. Die Wirtschaft verharrt nach wie vor in Dauer-Agonie, und langsame Fortschritte in der Pandemiebekämpfung sind ausschließlich das Verdienst einiger Gouverneure, die die Impfung der Bevölkerung in ihren Staaten organisieren. Es scheint, als würden die Karten hinter den Kulissen des Machtapparats wieder neu gemischt …
Und nun, nach meiner kurzen Herbstreise 2021 nach Deutschland, wo die Pandemie – und dazu die gesellschaftspolitische Dauer-Krise – erneut hoch geflammt sind, erscheint in Brasilien wieder alles ganz anders. Die meisten Menschen, zumindest im Nordosten, haben sich bereitwillig, oft schon zum dritten Mal, impfen lassen, die Inzidenzwerte sind relativ niedrig, und die Menschen feiern wie früher Megapartys an den Stränden. Brasilien erscheint wie ein Standardbeispiel für den antiken Satz von Heraklit „Alles fließt“ – nichts bleibt wie es ist, alles ist ständig im Umbruch; die meisten Menschen leben in den Tag hinein, von der Hand in den Mund und haben kaum etwas, worauf sie sich wirklich verlassen können – fatalistisch, verantwortungslos, gelassen und irgendwie bewundernswert.
In der Silvesternacht gab es Shows mit teils Tausenden Besuchern der Musikdivas Daniela Mercury, Ivete Sangalo und anderen (der Eintritt für die Show: läppische 500 Reais, was für die meisten Menschen einen Gegenwert von mindestens 500 Euro bedeutet). Der Karneval 2022 wurde zwar einerseits gestrichen, dafür aber – wie zu Beginn seiner Entstehung – wieder ein exklusives Vergnügen der Wohlhabenden mit mit einer limitierten Besucherzahl und horrenden Eintrittspreisen.
Die Folge: Im Februar war die Anzahl der Corona-Toten wieder so hoch wie vor einem Jahr. Bei der Präsidentenwahl im Herbst werden die Chancen für Bolsonaro zur Wiederwahl wohl wieder sinken, es sei denn, er putscht – was bei einer verlorenen Wahl durchaus möglich erscheint. Politik, Geld und Kultur gehören in Brasilien seit jeher zusammen, sie durchdringen und bedingen sich gegeneitig – ein ewiges Spiel aus Show für das Volk und denjenigen, die im Hintergrund an den Fäden ziehen. Doch auch sie scheinen oft nicht zu wissen, wohin ihre unsichtbaren Schnüre das Land treiben – in den Abgrund, einen neuen Aufschwung, oder – was am wahrscheinlichsten ist – ein ewiges, chaotisches Auf- und Nieder.
Und damit bin ich wieder am Anfang meiner Betrachtung – dem tiefen Graben, der schon immer existierte und durch die Krise nun umso sichtbarer geworden ist. Denn was hier niemals floss und wohl auch nie fließen wird, ist der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Arm und Reich. Sicher gab es auch einige sehr wohlhabende Opfer der Pandemie, aber die meisten Toten sind in den ärmeren Vierteln und Favelas zu beklagen, wo die Menschen oft zu, sechst, siebt, acht in einem einzigen Raum leben, und das Virus sich ausbreitet wie ein Düsenflieger. Dabei wären, wie mir eine Krankenschwester erzählte, die in einer Corona-Station des öffentlichen Gesundheitssystems SUS arbeitet, viele Todesfälle zu vermeiden gewesen. In den kostenlosen Krankenhäusern arbeiten oft blutjunge Ärzte, die noch niemals einen lebenden Patienten intubiert haben. Das Ergebnis waren oft völlig gequetschte Atemwege und Lungen – die Patienten sind nicht am Virus selbst, sondern an der Intubation gestorben.
Während die Oberklasse über Rückzugsräume wie abgelegene Fazendas (Farmen) oder sogar eigene Inseln verfügt und sich dort erholt, haben etliche Familien aus der Mittelklasse, die zuvor über ein prosperierendes Einkommen verfügten, ihre Arbeit – und damit alles – verloren und leben nun vom Almosen des „Auxilio Brasil“ – die von Bolsonaro so umbenannte „Bolsa Família“ von Lula. Eine Mãe de Santo – eine Priesterin der Naturreligion Candomblé – erzählte uns, das auf den Dörfern in der Nähe ihrer Kultstätte die meisten Menschen an Schlaganfall oder Herzinfarkt sterben – wenn sie sich nicht gleich das Leben nehmen, weil ein Überleben in der Krise oft fast unmöglich geworden zu sein scheint. Damit hat sich die Maske der Gelassenheit endgültig von den Gesichtern dahinter gelöst, und übrig bleibt der nackte Kampf ums Überleben.
Brasilien ist wie der Lauf eines Flusses voller unvorsehbarer Strömungen und Wirbel –überaus liebenswert, oft grausam, ungerecht und faszinierend in einem; ein Land, dessen Vielfalt der Kultur seit jeher von der Kreativität der Armen herrührt – um am Ende doch in den Kassen der Reichen und Mächtigen zu klingeln.