Anfang November 2019 erschien im Salon-Literatur Verlag mein neues Fotobuch über Tiflis – die faszinierende Stadt zwischen Orient und Okzident. Hier sind zur Einstimmung ein Textauszug und einige Bilder:
Die Hauptstadt Georgiens zählt für mich zu den fotogensten Städten dieser Welt. Anderswo finden sich vielleicht aufregendere Kulissen, höhere Wolkenkratzer und prächtigere Arkaden. Tiflis aber besticht durch die pittoresken Wohnhäuser seiner ganz normalen Einwohner – Personen der Mittelschicht, Bauern, Handwerker und Arbeiter – und die Spuren der Zeit, die viele Gebäude so verformt hat, als wären es eigenständige, seltsam verschrobene Wesen.
Ich wohnte in einem Viertel östlich des Flusses Kura in der Giorgi-Chubinashvili-Straße, in einem alten, unglaublich blauen Haus mit der für Tiflis typischen Außentreppe, die sich wie ein langbeiniges, unförmiges Insekt von Stockwerk zu Stockwerk wand. Gegenüber lag ein wunderbar verschachteltes Holzhaus mit niedlichen Erkern, kleinen Balkonen und Galerien, die sich mitunter wanden, streckten, drehten und bogen, als besäßen sie ein Eigenleben und das mit den Jahren gewachsene Recht, sich dorthin zu neigen, wohin es ihnen gefiel.
Die ganze Altstadt ist voll solcher Häuser, von denen eines verspielter und skurriler wirkt als das andere. Manchmal hängt ein Balkonende träge nach unten, eine Zierleiste schwebt wie losgelöst in der Luft oder ein Erker macht Anstalten, unauffällig davon zu schweben. Das Holz hat sich mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten zu zarten Pastelltönen verfärbt, alte Tünche ist brüchig geworden, Eisen rostig, Fensterscheiben sind unter dem Druck der einwirkenden Kräfte gesprungen, und Holzbohlen haben langgezogene Risse.
Tagsüber dösen die Fassaden unter der heißen Sonne und ächzen manchmal wie ein altes Schiff an der Mole. Abends aber fangen sie an leise zu atmen; aus ihren Ritzen dringt ein verhaltenes Seufzen; ihre Bewohner kommen von der Arbeit oder dem Einkauf nach Hause, treten schlafwandlerisch sicher über windschiefe Treppen und ziehen zur Sicherheit rasch noch ein Kreuzzeichen. Kaum schlägt die Tür hinter ihnen zu, scheinen ihre uralten Behausungen sie zu verschlucken und geben sie erst am nächsten Morgen wieder frei.
Natürlich hat die pittoresk wirkende Idylle zwei Seiten – die des Betrachters und die der Bewohner. Ich besuchte die Stadt an der Kura Ende April; ein anderer Gast erzählte mir, in der Nacht vor meiner Ankunft habe es noch gefroren. Ich konnte diese Information gut nachvollziehen, denn mein wunderschönes Zimmer lag an der Nordseite, wo niemals auch nur ein Sonnenstrahl hinfiel. Nachts lag die gefühlte Raumtemperatur bei etwa fünf Grad. Fast keines der alten Häuser verfügt über eine Zentralheizung. Wenn man Glück hat, steht irgendwo vielleicht ein Ofen oder Heizstrahler. Und die Winter können im Kontinentalklima des Kaukasus lang und kalt werden. Die Menschen aber sind an die heftigen Temperatursprünge gewöhnt und behelfen sich zur Not mit einer Wolljacke, gesundem Fatalismus und einem selbst gekelterten, fruchtigen Wein oder Schnaps.
Die wirkliche Bedrohung kommt für sie aus einer anderen Richtung: Reparaturen an den oft baufälligen Häusern sind aufwendig und teuer. Dächer werden undicht, ganze Gebäudeteile stürzen ein oder beginnen zu modern. Meine Zimmerwirtin, eine nette ältere Dame, die mit ihrem Mann und einem von der Straße aufgelesenen Hund in dem weitläufigen Anwesen lebt, erzählte mir, dass sie ihr Haus aus eben diesem Grund an Touristen vermietet. Der Urgroßvater ihres Mannes hatte das Gebäude einst errichten lassen. Er war einer der Gründerväter und erster Rektor der Tifliser Staatlichen Akademie der Künste. Die Straße, in der das Haus steht, ist bis heute nach ihm benannt …