Das Städtchen Itabuna im mittleren Süden des Brasilianischen Bundesstaats Bahia war bis Ende Dezember 2021 eine prosperierende Metropole mit – im Verhältnis zum Rest des Staates – relativ niedriger Arbeitslosigkeit; bis, von einem Tag auf den anderen, eine Sintflut Straßen in Flüsse verwandelte, Dächer und ganze Häuser mit sich fortspülte, Autos wie Spielzeuge durch die Fluten warf und mehr als 600 Familien das Dach über dem Kopf wegstahl. Einige davon wurden von den Wassermassen so isoliert, dass Rettungsaktionen und die Versorgung mit Lebensmitteln nur noch mit Hilfe von Hubschraubern der Armee möglich waren. Etliche Menschen standen bis zum Hals im Wasser, das ihr Haus überflutet hatte und warteten verzweifelt auf Hilfe.
In ganz Bahia sind 430.000 Personen, meist aus dem mittleren Süden, von den Wasserschäden betroffen. Ein Mann ertrank im über die Ufer getretenen Rio de Contas, die Gesamtzahl der Toten in der Kleinstadt stieg auf achtzehn. In Jussiape brach ein Damm, die Wassermassen dahinter ergossen sich unkontrolliert über Stadt und Felder.
Der Fluss Cachoeira – normalerweise ein träge dahin fließendes Gewässer – überschwemmte einige Viertel abseits des Zentrums völlig.
Die metereologische Erklärung für die massiven Regenfälle – soweit sind sich die brasilianischen Wissenschaftler im Prinzip einig – war eine große Konvergenzzone im Südatlantik. Dieses System entsteht durch ein Wolkenband, das sich im Süden der Amazonasregion bis zum zentralen Süd-Atlantik ausbreitet. Dadurch wurde die Feuchtigkeit aus dem Amazonasgebiet nach Bahia umgeleitet.
Diese Konvergenzzone, so die meisten Wissenschaftler, sei im Sommer absolut üblich und dauere normalerweise drei bis vier Tage.
Rui Costa, der Gouverneur Bahias, hat, nachdem der Regen mitnichten aufhörte, weitere siebenundvierzig Städte zum Katastrophengebiet erklärt, damit waren es mit den schon vorhandenen zweiundsiebzig. Siebenunddreißig Städte mit zahlreichen Vororten (sprich Armensiedlungen – Favelas, die wegen ihrer Steillage am Hang meist besonders betroffen sind), standen laut Costa unter Wasser.
Und sogar die Reichen, die derartige Katastrophenmeldungen normalerweise mit Gänsehaut und einem kühlen Pils in der Hand vor ihren Flachbildschirmen am Pool verfolgen, hat es diesmal, vor den Toren von Ilheus – der Provinzhauptstadt des Bezirks – erwischt: Ein „Condomínio de luxo“, ein abgetrennter Wohnbezirk für Wohlhabende wurde vollkommen überschwemmt, die Menschen mussten teils mit Jetskis evakuiert werden.
Doch auch die Welle der Hilfsbereitschaft ist groß. Überall in Bahia formierten sich Gemeinschaften und Sammelstellen, um die am schlimmsten Betroffenen mit Lebensmitteln, Wasser, Kleidern, Medikamenten, Windeln und Decken zu versorgen.
In Jucuruçu, im Süden Bahias, gab es einige isolierte Viertel ohne Zugang zu Energie, da die (Armen-)siedlungen sich zu Inseln verwandelt hatten. Es gab Noteinsätze mit dem Hubschrauber, während die Fachleute vom Energieversorgungsunternehmen Coelba versuchetn, die Stromversorgung wieder herzustellen. In Trancoso, einst ein idyllisch verschlafenes Hippiedorf hinter Porto Seguro – heute dank seines Club Med ein schicker Touristenort für den Geldadel – geriet eine Steigung, die zu den Bilderbuch-Stränden dahinter führt, zum reißenden Wasserfall. Ein Haus in der ländlichen Zone um das Städtchen Amargosa wurde durch einen Erdrutsch vollkommen begraben. Die Körper der Familie, die sich in dem Haus befand, wurden bis zum Jahreswechsel nicht gefunden.
Neben etlichen Ortschaften im Süden gab es auch in Juazeiro im Norden Bahias immense Wasserschäden. Einer Hochschwangeren gelang es auch mit Unterstützung der Nachbarn nicht, die überflutete Brücke zu überqueren, sie musste von Anwohnern bis zum Städtischen Krankenhaus getragen werden.
Auch die Chapada Diamantina, ein schönes Ausflugs- und Naturschtzgebiet im Westen Bahias wurde schwer betroffen, vor allem die verschlafene Kleinstadt Andaraí, Lençois, die historische Hauptstadt der Chapada und das ebenfalls historische Städtchen Palmeiras.
Bis Ende Dezember gab es im Süden einundzwanzig Tote und 77.000 Menschen ohne Dach und Wohnraum.
Nach Meinung der meisten Meteorologen in Brasilien stand diese Situation nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel. Alles das habe, so Wagner Ribeiro, Professor für Geografie an der Universität von São Paulo, zu tun mit dem Phänomen La Niña, die die Wassermassen des Äquatorialpazifiks abkühlt und für Regen im nördlichen Zentrum von Brasilien sorgt – bestärkt durch El Niño, der den Atlantik aufheizt und Hitze sowie Feuchtigkeit in den Nordosten bringt. Diese sich verstärkende Kombination von La Niña und El Niño verursachen einen Unterdruck an der Küstenregion Brasiliens. Dieser Unterdruck sauge die Energie von Amazonien an. Anstatt dass sich die Konvergenzzone bewege, wie vorgesehen, träte dieser „unübliche“ Effekt ein. (Quelle: Brasil de fato) Die meisten Spezialisten des Landes wanden sich mehr oder weniger geschickt um eine eindeutige Zuordnung der Katastrophe herum: Auf der einen Seite seien diese Phänomene nicht notwendigerweise Konsequenzen des durch die globale Erderwärmung hervorgerufenen Klimawandels. Worüber man allerdings spekuliere, sei, inwieweit La Niña und El Niño nun doch häufiger auftauchten – im Zusammenhang mit dem allgemeinen Klimawandel. Es gäbe auf diese Frage keine eindeutige Antwort, aber die Assoziazion, dass dies mit der globalen Erderwärmung zu tun haben könnte, sei plausibel …
Ich denke, ein geschickteres „Jein“ könnte kaum ein mit allen Wassern gewaschener Winkeladvokat aus den Taschen zaubern. Was für westliche, international anerkannte Wissenschafter nach langdauernden, detaillierten Berechnungen (Quelle: „Bild der Wissenschaft“) längst evident ist, wird in Brasilien als vage in Betracht zu ziehende Möglichkeit gesehen: Wenn dein Haus zum zweiten, dritten oder vierten Mal unter Wasser steht, wird zunächst einmal in Ruhe überlegt, ob diese Katastrophe „normal“ oder doch menschengemachten Umständen zu verdanken ist …
Und nun, nach nicht mal zwei Monaten Durchatmen, Petrópolis in den Bergen nördlich von Rio de Janeiro; die alte Kaiserstadt, in der es sich Dom Pedro II. zwanzig Jahre lang fern der portugiesischen Heimat gemütlich gemacht hat: Ähnliche Ursachen – und diesmal eine noch erchreckendere Wirkung: Hundertvierzig Tote und Zweihundertachtzehn Verschwundene sind bis zum 18.2. 2022 zu beklagen, Auf Youtube-Videos sieht man, wie der Starkregen sich urplötzlich zu Wasserfällen kulminiert, die sich über die steilen Hänge ergossen und viele Häuser einfach mit sich rissen.
Der Geologe Ribeiro sagte zu dem Thema (noch vor der Katastrophe in Petrópolis): „Brasilien hat die seltene Gelegenheit, soziale Schulden zu begleichen, in dem es eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawindel schafft.“
Nach so einer Aussage kann man nur tief durchatmen. Was schlägt der Wissenschaftler vor? Größere Regenschirme? Noch höhere Dämme, die dann, wenn sie brechen, noch größere Schäden verursachen? Vor ein paar Jahren hat es die Armensiedlungen rings um Rio de Janeiro erwischt, mit Hunderten von Toten und Obdachlosen. Diese Siedlungen – die Favelas – sind den Wassermassen besonders schutzlos ausgeliefert. Zum einen, weil sie meist völlig planlos an Steilhänge gebaut werden, zum anderen, weil kein Mensch auf eine anständige Grünbepflanzung der Hänge achtet, die oftmals gleichzeitig als Müllhalde dienen. Plasiktüten und Restmüll werden vor die Haustür geworfen (eine öffentliche Müllabfuhr ist oft nicht vorhanden), überspült von Flugerde, auf der dann vielleicht ein paar Grashalme sprießen. Kommt es dann zu einem wolkenbruchartigen Regen, wird die ganze Schicht unterspült, ausgehölt und samt dem darüber liegenden Haus wie auf einer Rutschbahn weggeschwemmt. Ich weiß nicht, ob danach die eine oder andere Comunidade in feste Häuser umgesiedelt wurde. Vielleicht – ein paar. Der freigewordene Raum an den Hängen wird aber sogleich wieder genutzt von den Armen, die um jeden Quadratmeter einigermaßen würdigen Wohnraum kämpfen und erneut notdürftig zusammen gemauerte Häuschen errichten. Solange die Ärmsten nicht die Mittel haben, Mieten für einigermaßen angemessenen Wohnraum zu zahlen (In den Coronajahren 2020 -2021 lag die Inflation bei wichtigen Konsumgütern knapp unter zweihundert Prozent), wird es wild wuchernde Favelas und Unglücke wie damals in Rio oder jetzt in Bahia geben. Solange der Amazonaswald maßlos abholzt wird, zerstört dies das Gleichgewicht zwischen periodischen Überschwemmungs- und Trockenzeiten, die Wolken, die sich eigentlich über dem Wald ausregnen sollten, werden weiter getrieben und ziehen ihre vernichtende Bahn durch Südamerika.
Ein weiterer Faktor, der in Brasilien gerne verschwiegen wird, ist die Transposição – die Begradigung und Regulierung der Flussläufe. Ich erinnere mich noch gut, wie vor ein paar Jahren die Begradigung des Rio São Francisco – des „Chico“, wie er liebevoll von den Baianos genannt wird, in Angriff genommen wurde.
Vor etlichen Jahren kam ich – nach einer holprigen Busfahrt auf einer schlagloch übersähten Straße – in Xique Xique an, einem winzigen Städtchen am Flußufer, dass allles andere als schick war. Am Ufer dümpelten bunt bemalte kleine Handelsboote und Fähren; Männer, Frauen, Kinder, Ziegen, Enten und Schweine hockten gemütlich davor, ratschten endlos und warteten auf die Abfahrt der Fähre, von der kein Mensch genau wusste, wann sie genau stattfinden sollte – es hat auch niemanden so wirklich interessiert. Im Ort gab es anheimelnde Pousadas Familáres – Pensionen – wo man sogleich wie ein neues Familienmitglied aufgenommen wurde. Der Ort war nicht nur real, sondern auch im Geist hunderte von Kilometern vom chaotischen, oft kriminellen und vor Anmache knisternden Salvador entfernt. Hier saßen, als die Lancha endlich abfuhr, Männer und Frauen streng getrennt (dazwischen die Ziegen, Enten und Schweine), die Männer rissen anzügliche Witze, die Frauen lachten dazu glockenhell – aber niemand hätte gewagt, sich zu einer obzönen Geste oder Annäherung hinzureißen.
Wir fuhren gemütlich den zeitlos vor sich hin fließenden Chico entlang, folgten seinen weitläufigen Bögen und landeten schließlich in Juazeiro, der Stadt, die im Dezember ebenfalls überschwemmt wurde.
Irgendwann kamen clevere Planer und Wirtschaftsbosse auf die Idee, den noch in Mäandern fließenden Fluß in ein gerades, betoniertes Bett zu sperren. An den Ufern des Flusses gab und gibt es nämlich riesige Obstplantagen mit wunderbar prallen Früchten – nicht für die Baianos selber, sondern für den Export in das reiche Europa und die USA.
Entwicklungs- und Schwellenländer verfügen über das Privileg, sehenden Auges die gleichen Fehler, die die Länder der Ersten Welt begangen haben, noch einmal zu wiederholen – trotz warnender Fachleute, trotz geglückter Renaturierungs-Maßnahmen wie zum Beispiel der wieder mäandernden Isar in München. Trotzig wurden beide Augen vor der Realität geschlossen, störende Naturreservate mit Ureinwohnern, die dort seit vielen Generationen lebten, umgesiedelt und der Chico begradigt. Das traurige Ergebnis konnte man schon in den letzten Jahren verfolgen: Am Uferbereich kam es zu vermehrten Erosionen, dem Fluss wurde der letzte noch vertretbare Tropfen Wasser entzogen, und dann – so wie jetzt im Dezember, prasselnde, Tage andauernde Regengüsse, die den Fluss mangels Ausweichmöglichkeit über die Ufer treten liessen und wie eine Dampfwalze auf Juaziero und andere Städte zusteuerten, um alles, was ihnen im Weg stand, zu begraben.
Ich möchte lieber nicht wissen, wie es in dem ehemals schönen und romantischen Xique Xique jetzt aussieht.
All diese „Begradigungen“ geschahen nicht nur mit dem Rio São Franciso, sondern mit fast allen Flüssen in Bahia und Brasilien, sofern sie nicht durch ein geschütztes Naturschutzgebiet fließen (dessen Schutz unter der aktuellen Regierung meist keinen Pfifferling wert ist). Das Ergebnis ist, mit schöner Regelmäßigkeit, in allen Regionen zu sehen, die El Niño für seine zerstörerische Bahn auswählt: Geborstene Dämme, Brücken, die wie Streichhölzer zusammenknicken, überflutete Häuser, Tausende von Obdachlosen.
Doch „O Brasil é nosso“, wie Präsident Bolsonaro einmal bezüglich des Amazonas und der protestierenden Umweltschützer und Indigenen sagte – „Brasilien gehört uns“. „Die Indios wollen doch leben wie wir“, ist ein anderes Zitat von ihm – womit er wohl eher ein Leben – was die Indios betrifft – als arme Tagelöhner, Entwurzelte, dem Alkohol und Krankheiten verfalle Menschen, meinte.
Während Bahia unter etwa einer Million Betroffenen der Wassermassen litt, machte Bolsonaro Ferien in Santa Catarina, einem der südlichsten Bundesstaaten, wo wunderbar angenehm die Sonne schien. Wollen wir hoffen, dass er sich dort gut erholte!
Immerhin räumte der Staatsanwalt der Republik in Vitória da Conqista, der dem „Ministério Público“ vorsteht („Öffentliches Ministerium“, das der Verteidigung der Bürgerrechte dient), ein, „dass die Natur keine Schuld hat,“ und fuhr fort: „Wir sind schuld, die Öffentliche Hand ist schuld, weil sie die Sorge um das Wasser nicht ernst nimmt … Viele Dämme, bereits gebrochen oder vom Einbrechen bedroht, wurden irregulär von Privatpersonen errichtet, die immer noch glauben, sie seien die wahren Herren der Felder und Flüsse.“
Doch auch der Staatsanwalt der Republik greift zu kurz, weil er die globalen, menschengemachten Klimaveränderungen, massiven Abholzungen und Flussbegradigungen nicht in die Rechnung mit einbezieht.
Was nach der Katastrophe übrigblieb, gleicht einem verwüsteten Schlachtfeld: Entwurzelte Bäume, langsam verwesende Tierleichen, die Krankheitskeime über das Wasser weitertragen, teils grausam erstickt an dem Plastikmüll, der durch die Fluten verteilt wurde; eingestürzte Brücken und Häuser, Autowracks, Müll und Schuttmassen inmitten von riesigen Schlammfeldern, die nun, in der wieder erglühenden Hitze langsam festtrocknen und die Aufräum-Arbeiten weiter erschweren. Und die Menschen, die Verwandte und Freunde, ihre Häuser, ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, warten darauf, dass der Staat endlich etwas unternimmt – bis das Geschwisterpaar El Niño und La Niña wieder auftaucht, um sich einen neuen Ort für seine Bahn der Zerstörung zu suchen …