Von Tanger in die Blaue Stadt Chefchaouen

Marokko ist ein Land, dessen Image sich mit den Jahren vom verkifften
Hippe-Paradies zu einem „schon nicht mehr Geheimtipp“ für gut betuchte
Schöngeister und Genießer gewandelt hat.

Ich hatte das Land in den 1980ern zum ersten Mal besucht und fuhr mit dem Überlandbus von Agadir in ein Marrakesch, das sich in seiner geheimnisvollen und damals (fast) kostenfreien Exotik sicher sehr von der aktuellen Stadt unterschied, dessen Anima-Garten von André Heller, exquisite Restaurants und sündteure Hotel-Oasen kaum einen Wunsch für den verwöhnten Genießer offenlassen.

Vor ein paar Jahren stieß ich zufällig auf einen Artikel über Paul Bowles, den amerikanischen Schriftsteller, der vor Jahrzehnten Tanger zu seiner Wahlheimat erklärt hatte. Damals war die Stadt das Tor Marokkos zu Europa, eine quirlige, faszinierende Mischung aus Tausendundeiner Nacht, rauschenden Festen, Kreativität und europäisch geprägter Bohéme. Bis heute zehrt die Metropole von diesem Ruf, und ich entschloss mich, ihm zu folgen und auf den Grund zu gehen.

Mein Eindruck auf dem zentralen Platz in der Altstadt, wo ich meine Gastgeberin treffen wollte, ließ mein Abenteuer suchendes Herz höher schlagen: Ein unübersehbares Gewurle von Burnus tragenden Menschen, knallbunten Farben, öffentlich zur Schau gestellten Waren aller Art; exotischen Gerüchen, schriller Musik, faulenzenden Cafe-Besuchern, Eselskarren und einer endlosen Karawane hupender Autos und Mopeds. Ich bezog mein geräumiges Zimmer, das sehr zentral mitten im Souk lag – was mir in der Morgendämmerung durch die Rundumbeschallung der elektronisch verstärkten Muezzins nur zu deutlich in die Ohren fiel.

Wie im Traum wanderte ich durch die exotische kleine Welt, entdeckte zwischendrin auch stille Gassen mit wunderbar bemalten Fassaden und einem Meer von Blumen und genoss das leckere, bekömmliche und günstige Essen in den winzigen Restaurants. Doch je länger ich mich in der Stadt aufhielt, desto mehr wurde mir bewusst, dass mir einiges darin fehlte: Zunächst die Frauen! Ich war 1998 zuletzt in Marrakesch gewesen und registrierte damals erfreut die zaghafte, aber sichtbare Emanzipation des weiblichen Bevölkerungsanteils. Junge Mädchen trugen selbstbewusst enge Jeans, schicke Frisuren und Schminke, und auch viele ältere Frauen trauten sich völlig unverhüllt auf die Straße. Hier in Tanger registrierte ich verblüfft, dass die sie einfach nicht da waren. Das Straßenbild war fast ausschließlich geprägt von Männern, und wenn sich ein weibliches Wesen im öffentlichen Raum verirrte, dann mit Sicherheit sreng verhüllt.

Auch von kreativem Schöpfergeist in verwunschenen Cafés , von europäischer
Bohéme und Liberalität war nicht viel zu spüren. Wie in etlichen anderen
muslimisch geprägten Ländern hatte auch hier der Islamismus deutliche Spuren
hinterlassen. 

Ich spürte, wie mich die fast ausschließliche Präsenz meiner Geschlechtsgenossen und die schrille Allgegenwertigkeit von Religion zusehends irritierten und machte einen Ausflug in das ein paar Stunden entfernt gelegene Chefchaouen. Schon die Fahrt mit dem Bus durch die idyllische Berglandschaft war ein Genuss für die Augen.

Vor etwa zwanzig Jahren wollte ein findiger Hausbesitzer in der Stadt seine Fassade verschönern  und bemalte sie mit dem wunderbaren marokkanischen Blau. Das Ergebnis muss beeindruckend gewesen sein, denn weitere Besitzer folgten. Nach und nach schimmerten Wände, Türen und Fenster, Geländer, ganze Treppen und langgezogene Mauern in einem fast atemberaubenden Blau, das durch das verbliebene Weiß drumherum wirkt, als würde es von innen heraus strahlen. Schnell sprach sich die blaue Oase im Norden Marokkos unter Touristen herum, die Hotels und Pensionen füllten sich, neue kamen hinzu, Souvenirläden und Restaurants sprossen aus dem Boden, und der Wohlstand für die meisten Einwohner war gesichert.

Auch ich spazierte wie in Trance durch diese merkwürdig zweifarbige Welt, lief steile (natürlich blaue) Treppen immer weiter nach oben, bis ich in ein ruhiges Viertel kam, ich staunend schauen, verweilen und fotografierten konnte und sich der Blick öffnete auf das beeindruckende Panorama der Berge, in denen man herrliche, auch geführte Wanderungen unternehmen kann. Ich sah ratschende Wäscherinnen am Fluss und unmittelbar dahinter zwei nette Cafés, deren helle Sonnenschirme vor der knallenden Sonne schützten. Langsam lief ich den Abhang hinunter, sah tiefenentspannte Gäste, die direkt am Ufer ihren Minztee tranken und ihre nackten Füße ins Wasser hielten. Ich setzte mich in eins der Cafés, trank süßen Tee, beobachtete die fröhlichen Wäscherinnen und einen Mann, der einen gewaltigen Pfau zur allgemeinen Betrachtung darbot. Erst langsam wurde mir bewusst, dass ich Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts sah und weder schrille Musik noch Muezzins hörte! Es herrschte allseits Frieden und Eintracht. Die wahre Schönheit, dachte ich, ist manchmal erstaunlich einfach …